Erinnerungen an 1979

Sommer 1979 in Südamerika. Nicaragua stand diesmal auf meinem Reiseplan. Am 19. Juli endlich eroberten die Sandinisten Managua, Somoza floh. Mein Weg führte von Argentinien über Chile nach Costa Rica. Flugzeugplätze nach Managua waren unmöglich zu bekommen. Die Friedrich Ebert-Stiftung nahm mich in ihrem Kleintransporter mit. Wir hatten u.a. einen Kopierautomaten geladen, ein Geschenk für das neue Bildungsministerium, und Verpflegung für eine Woche. Auf endlosen Alleen, der Panamericana, "Traumstraße der Welt", gelangten wir über die Grenzstadt Liberia nach Nicaragua. Grenzkontrolle - mein Reisepass trägt einen FSLN-Stempel vom 4.8. Die Soldaten trugen rot-schwarze Dreiecktücher, viele Zivil statt Uniform. Junge Männer und Frauen, freundlich und fröhlich. 17 Kontrollen zählte ich bis Managua; sie suchten nach Resten von Somozas Guardia, hieß es.

 

In Managua beherrschten noch die Barrikaden das Stadtbild. Und natürlich die rot-schwarzen Soldaten. Die Bewohner auf der Suche nach Essbarem, das selbst zu Wucherpreisen knapp war. Endlose Kolonnen Rotkreuz- und ähnliche Transporter fuhren unter weißer Flagge Lebensmittel heran. Ab 18 Uhr war Ausgangssperre. Jede Nacht bis zum Morgengrauen Schießereien, jeden Morgen ermordete Sandinisten.

 

Es war Zufall, dass ich in die Delegation der Sozialistischen Internationale gelangte, deren Vertreter aus allen Teilen der Welt hier zusammen kamen. Ich wohnte in einem der zwei intakten Hotels, dem Interconti, das derzeitig auch Quartier für die Regierung und die Führung des Frente war. Hier trafen wir uns zum Frühstück bei Reis und Bohnen und zu abendlichen Pressekonferenzen und Gesprächen bei Bohnen und Reis - für ausnahmslos alle!! Auch mein zerknittertes Bettzeug schrieb ich den revolutionären Zeiten zu - erst Felipe Gonzales vergessene Zigarren deuteten auf den Vor-Nutzer hin. Fernseher standen in der Hotelhalle; US-amerikanische Sendungen waren gestrichen, ich sah dafür die "Schwarzwaldklinik", in deutscher Sprache.

 

Das Programm für die SI: Wir sahen den Wohnpalast Somozas und seinen Bunker. Wir sahen Gefängnisse und die Folterkeller der vormaligen Oppositionellen. Wir besuchten ein Gefängnis für Guardisten, die sich bei Tageslicht, bei Musik, mit Zigaretten und Verpflegung von ihren Angehörigen gut behandelt fühlten, wie sie uns sagten (In jeder Stadt waren Volksgerichte von der Junta del Gobierno eingesetzt worden, bestehend aus 3 Personen einschließlich eines Rechtsanwaltes). Wir besuchten Masaya und seinen Vulkan, in dessen Kraters glühende Lava unliebsame Oppositionelle aus Hubschraubern abgeworfen worden waren. Bei einem mitternächtlichen Extra demonstrierte Tomás Borge in seinem früheren Gefängnis, wie er monatelang an einem Fensterkreuz angekettet gewesen war. Unser Fahrzeug war das des spanischen Botschafters; für Diplomaten gab es großzügigere Benzin-Zuteilungen. Ein spanischer Abgeordneter, früher Generalsekretär der Falken, fuhr, mit uns ein Soldat zum Schutz; Mario Soares, Leiter der SI-Delegation, und ich malten unser Gespräch auf Papier mangels einer gemeinsamen Sprache.

 

In diesen Tagen kamen Delegationen aus aller Welt an: der Ostblock war stark präsent. Die Junta und die Leitung des Frente versicherten uns, dass sie ein pluralistisches System einführen wollten, eine gemischte Wirtschaft, keine Kopie eines "real existierenden Sozialismus". Soares sicherte Hilfe der Sozialdemokraten "ohne irgendwelche Konditionen" zu. Die Bedrohung von außen, d.h. der USA, wurde unterschiedlich eingeschätzt; Hilfe erwartete niemand. Borge lud mich als seinen Gast ein, wenn ich im Jahr darauf wiederkäme. - Wie finde ich Sie? - Schreiben Sie einfach: "Irgendwo in Nicaragua", das ist im Krieg auch immer angekommen.

 

In der Hotel-Lobby Dr. Carlos Vanzetti alias Ernst Fuchs, der jeden Deutschen um medizinische Hilfe ansprach! Für die benötigten Spezialbetten für Querschnittsgelähmte sammelte ich in Berlin; mehrere Flugzeugladungen voller Medikamente, die aus Berliner Krankenhäusern stammten, gelangten nach Nicaragua. Eine Ambulanz mit der Aufschrift "Geschenk des Senats von Berlin" versorgte Kranke auf dem Lande. Klinische Großgeräte folgten später. All dies war möglich mit Unterstützung des Kreuzberger MdB Waldemar Schulze, für den ich arbeitete, mit der Hilfe Berliner Ärzte, des Nicaragua Komitees u.v.a.

 

"Patria libre o morir". Eine Stimmung ungeheuren Stolzes, der Freude und Erleichterung, des Aufbruchs. Ein Volk, das sich in sandinistischen Komitees organisierte, die für alles und jedes zuständig waren. Ein Volk, das sich selbst befreit hatte, an dessen Sieg wir erfreulicherweise mehr beteiligt waren, als allgemein bekannt ist. Eine Revolution, deren Markenzeichen es ist, auf Rache verzichtet zu haben.

 

Zurück in Berlin galt es, neben der Hilfe-Organisierung aufzuklären, da alle! Medien anti-sandinistisch informierten. In Kreuzberg organisierte ich eine kleine Ausstellung, referierte, und bald darauf forderten Genossen weitere Infos - Vorarbeiter dessen, was später als Städtepartnerschaft Kreuzberg - San Rafael del Sur gegründet wurde.

 

Zum 1. Jahrestag der Revolution wieder in Nicaragua (Ich bekam von der Junta eine staatliche Auszeichnung, und darauf bin ich stolz). Das Land, die Hauptstadt, die Menschen gänzlich verändert. Frente und Regierung in eigenen Gebäuden. Als ich Tomás Borge besuchte, war unsere Zeit knapp wegen der Segnung seines Ministeriums durch Bischof Obando y Bravo. Borge, der mich zur Abschlussfeier der Alphabetisierungskampagne einlud, schrieb mir eine Entschuldigung für den Bundestag, da mein Urlaub abgelaufen war.


Die Alphabetisierung beeindruckte wegen ihrer Dimension, des Eifers seitens der "Lehrer" und "Schüler". Ich war unterwegs in den Bergen, dort, wohin man nur noch per Pferd gelangen konnte, und erlebte anrührende Abschlussfeiern mit der Übergabe von Zertifikaten. Zu dieser Zeit war es in einigen Regionen bereits wieder gefährlich. Die Contras waren am Werk, Dutzende Brigadisten wurden ermordet. Die Gesellschaft war wieder gespalten, die Massen noch auf Seiten der FSLN; die, die ihre Privilegien verloren hatten, wehrten sich dagegen mit allen Mitteln (und der Hilfe der USA). Wie immer im radikalen Umbruch: Wenn nicht sofort angekündigte oder erwartete Besserung eintritt, distanziert sich das Volk vom Neuen. Anerkennung denen, die trotz Rückschlägen und Frustration ihren Idealismus, ihre Hilfsbereitschaft beibehielten.

 

Dr. Helga Ernst