Die neoliberalen Jahre

1990 - 1996 Die Präsidentschaft Chamorro

Bevor die FSLN die Macht an die U.N.O. übergibt, versucht sie, die Errungenschaften der Sandinistischen Volksrevolution zu sichern. Zwischen Februar und April werden noch tausende von Besitzurkunden an Kooperativen, Kleinbauern und Besitzer konfiszierter Häuser ausgegeben.

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Da sie sich während ihrer Regierungszeit keine wirtschaftliche Grundlage geschaffen hat, begünstigt die FSLN in einer als piñata bekannt gewordenen Aktion verdiente Mitglieder der Partei. Einige staatliche Betriebe, Regierungsautos und andere Wertgegenstände erhalten noch schnell private Eigentümer.

 

Am 25. April übergibt die FSLN als erste siegreiche Guerilla der Geschichte nach demokratischen Wahlen die Macht an eine neue Regierung. Als die Nationalversammlung zusammentritt, beginnt bereits ein Auflösungsprozess im Lager der U.N.O., so dass die neue Regierung mit wechselnden Mehrheiten arbeiten muss.

 

Violeta Barrios de Chamorro kann als neue Präsidentin Nicaraguas ihre Wahlversprechen nur teilweise erfüllen. Die wirtschaftliche Lage verbessert sich nicht, da die reichen Auslandsnicaraguaner_innen es vorziehen, in Miami zu bleiben und abzuwarten. Auch die Wirtschaftshilfe aus den USA erreicht nicht die erhoffte Höhe. Um Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten zu können, wird damit begonnen, staatliche Betriebe zu privatisieren und den Verwaltungsapparat abzubauen. Die soziale Demontage bleibt wegen der zu geringen Kredite und Wirtschaftshilfen unabgefedert. Dies führt zu Massenentlassungen und einer deutlichen Erhöhung der Arbeitslosenzahlen auf 60 %. Gleichzeitig werden Ausgaben im sozialen Bereich gekürzt. Die Folge sind Massendemonstrationen und Streiks in vielen Bereichen. In vielen Stadtteilen Managuas werden zeitweilig Barrikaden errichtet. Brennende Autoreifen künden von der verzweifelten Situation der Menschen.

 

Die Demobilisierung der Contras und die Verkleinerung des Heeres kommen nur schleppend voran. Die Contras geben überwiegend veraltete Waffen ab und werden, wie die ehemaligen Soldaten, in wirtschaftlich unergiebigen und logistisch schlecht erschlossenen Gebieten angesiedelt. Auch der versprochene Zugang zu Krediten für einen Neustart bleibt aus. Unzufriedene beider Lager ("Re-Contras" bzw. "Re-Compas") greifen erneut zu den Waffen. Es kommt zu kleineren militärischen Operationen und mehrfach zu Geiselnahmen von Politikern des jeweils gegnerischen Lagers. Letztendlich aber sind diese Gruppen in den meisten Fällen eher marodierende Banden.

 

Die massenhafte Verelendung in Nicaragua und die Wiedereinführung von Schulgebühren führen zu einem starken Rückgang beim Schulbesuch und zu einem Ansteigen der Analphabetenquote. Die Verteuerung im staatlichen Gesundheitswesen bedingt eine Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes weiter Bevölkerungskreise.

 

Angesichts der politisch-wirtschaftlich brisanten Situation verhandeln Regierung und FSLN im Rahmen der "Nationalen Versöhnung". Die Verständigung der beiden Lager bleibt wenig erfolgreich, da die Regierung auf ihrem neoliberalen Kurs beharrt, zahlreiche Gesetze aus der sandinistischen Regierungszeit revidiert und Rechtsansprüche ehemaliger Somozisten prüfen lässt.

 

Innerhalb der FSLN kommt es zu einer heftigen Diskussion über die Partei und den "autoritären Führungsstil" der Nationalleitung und Daniel Ortegas im besonderen. Etliche Mitglieder, darunter prominente Vertreter der Revolution, treten aus der Partei aus oder begeben sich in eine innere Emigration. Sergio Ramírez, der frühere Vizepräsident, gründet mit anderen die "Movimiento Renovadora Sandinista" (Bewegung zur Sandinistischen Erneuerung, MRS), die aber keine Massenbasis findet. Als Präsidentschaftskandidat der FSLN für die Wahlen 1996 wird wieder Daniel Ortega nominiert.

1996 - 2001 Die Präsidentschaft Alemán

Die FSLN hat es offensichtlich nicht verstanden, das im Land vorhandene Protestpotenzial auf sich zu vereinen. Sie erreicht bei den Wahlen in etwa den gleichen Stimmenanteil wie 1990 und bildet die stärkste Fraktion im Parlament. Die Wahlen verlaufen in vielen Fällen unregelmäßig (Urnen werden auf Müllhalden gefunden, ausgefüllte Stimmzettel in den Häusern von Funktionären der Rechtsparteien). Dennoch muss die FSLN letztlich den Wahlsieg des Parteienbündnisses Alianza Liberal ("Liberale Allianz", AL) anerkennen.

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Neuer Präsident Nicaraguas wird Dr. Arnoldo Alemán, ein (ehemaliger) Somozist, der von 1990 - 95 Bürgermeister von Managua war und im Wahlkampf mit populistischen Versprechungen brillierte. Unter seiner Regierung werden die Liberalisierung der Wirtschaft und der Sozialabbau forciert fortgesetzt. Schutzzölle für die ohnehin geringe einheimische Produktion und Gesetze, die nationales Kapital gegenüber ausländischem besserstellen, werden systematisch abgebaut, um das Investitionsklima für ausländische Investoren zu verbessern. Die Investitionen konzentrieren sich jedoch nicht auf die Produktion, sondern auf den Handels- und Dienstleistungsbereich.

 

Für die Mehrheit der Nicaraguaner_innen unerschwingliche Luxushotels und Shoppingcenter schießen aus dem Boden. Produktive Investitionen beschränken sich auf Freihandelszonen, wo multinationale Unternehmen unter weitgehender Steuer- und Zollfreiheit und in Abwesenheit von Arbeitsschutzbestimmungen importierte Halbfertigprodukte zu Billiglöhnen für den internationalen Markt weiterverarbeiten lassen.

 

Mit dieser Politik bringt Präsident Alemán zwar die nationale Oligarchie gegen sich auf, ebnet aber gleichzeitig den aus Miami zurückkehrenden Exil-Nicaraguaner_innen und –Kubaner_innen, die seinen Wahlkampf finanzierten, den Weg. Gleichzeitig spitzt er die noch immer ungelöste Eigentumsfrage zu. Er fordert die in den 80er Jahren Enteigneten, inklusive Angehörige der Diktatorenfamilie Somoza, dazu auf, ihre Ansprüche geltend zu machen und im Konfliktfall gerichtlich klären zu lassen. Diese Politik führt zu großer Rechtsunsicherheit der Menschen, die durch die Revolution begünstigt worden waren. Viele werden durch den ökonomischen Druck, der wegen des erschwerten Zugangs zu Krediten vor allem bei Kleinbauern und Kooperativen besteht, dazu gezwungen, ihr Land zu verkaufen. Tausende andere müssen mit ihrer zwangsweisen Umsiedlung rechnen.

 

Die FSLN als stärkste Oppositionskraft hat dieser Politik keine einheitliche Haltung entgegen zu setzen. Sie ist innerlich weiter zerstritten und dadurch nicht in der Lage, programmatisch glaubwürdige Gegenkonzepte zu entwickeln. Zwischen Daniel Ortega und Arnoldo Alemán kommt es zu Verhandlungen, dem Pacto de Caudillos (Pakt der Caudillos), in denen Absprachen über Verfassungsänderungen hin zu einem beiden Lagern nützenden Zwei-Parteien-System und über die Besetzung wichtiger Staatsämter getroffen werden. Die geheime Verhandlungsführung nährt weiteren Unmut an der Parteibasis. Meinungsumfragen zeigen, dass die Popularität der FSLN einen historischen Tiefststand erreicht hat.

 

Korruption, Selbstbereicherung und Vetternwirtschaft prägen den Regierungsstil Alemáns. Sein persönliches Vermögen hat sich seit seiner Zeit als Bürgermeister Managuas vervielfacht, wichtige Ämter werden an Verwandte und Freunde vergeben. Selbst internationale Hilfsgelder und Sachspenden nach dem Wirbelsturm "Mitch" 1998 wurden vielfach nach Parteibuch oder auf persönliche Empfehlung des Präsidenten verteilt.

 

Medien, die diesen Missbrauch anklagen, werden durch die Nichtvergabe von lukrativen Regierungsannoncen abgestraft. Der seit 1996 amtierende Oberste Rechnungshof, der die Regierungskorruption untersucht, wird praktisch ignoriert, sein Vorsitzender, Augustín Jarquín, erhielt bereits Morddrohungen. Selbst Skandale wie seine Verwicklung in den internationalen Drogenhandel sitzt Präsident Alemán gelassen aus. In der Nationalversammlung sichert er sich, trotz eines Auseinanderbrechens der Alianza Liberal die notwendige Mehrheit durchaus auch durch den "Kauf" einzelner Abgeordneter oder moderate Zugeständnisse an seine politischen Gegner. Auch für die nationalen Wahlen im Jahr 2000 wird wieder Daniel Ortega als Präsidentschaftskandidat nominiert.

2001 – 2006 Die Präsidentschaft Bolaños

Enrique Bolaños Geyer (geb. 1928) von der PLC wird 2001 zum Präsidenten gewählt. In den 80er Jahren war er ein vehementer Gegner der Sandinistischen Revolution.

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Bolaños nimmt mit Unterstützung der internationalen Gebergemeinschaft den Kampf gegen die Korruption auf. 2003 wird die Immunität Alemáns aufgehoben. Alemán wird wegen massiver Korruption inhaftiert und zu 20 Jahren Haft verurteilt. Diese Strafe wird kurz danach in einen Hausarrest umgewandelt, den Alemán in seinem luxuriösen Landhaus auf seiner Farm nahe der Hauptstadt absitzt. Trotz eines Verbots politischer Betätigung bestimmt er hinter den Kulissen weiter die Politik seiner Partei.

 

Hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik setzt Bolaños keine neuen Akzente. Die Masse der Bevölkerung verarmt immer mehr, die Quote an Analphabet_innen steigt, insbesondere im ländlichen Raum. Die medizinische Versorgung bricht für die Armen praktisch völlig zusammen. Das Pro-Kopf-Einkommen erreicht im Jahr 2003 umgerechnet nur noch 623 US$.

 

Der Beitritt zur Centralamerican Free Trade Area (Zentralamerikanische Freihandelszone, CAFTA), der die USA und die mittelamerikanischen Länder, später auch die Dominikanische Republik, angehören, locken ausländische Investoren an. Diese nutzen allerdings nur die billige Arbeitskraft in Nicaragua und schaffen Arbeitsplätze zu schlechten Bedingungen in den so genannten, praktisch steuerfreien Freihandelszonen. CAFTA erleichtert Importe, vor allem aus den USA, begünstigt aber nur in geringem Umfang Exporte in die beteiligten Länder.

 

Die FSLN in der Opposition bekämpft diese Politik wegen der sozialen Verelendung vehement und wird dadurch wieder populärer. Slogan Daniel Ortegas: „So wie der Sandinismus gestern eine Antwort Nicaraguas auf eine Diktatur war, so muss der Sandinismus heute eine Antwort des Volkes auf die schändliche Armut sein.“ Für die nationalen Wahlen Ende 2006 wird Daniel Ortega durch Abstimmung der Basis erneut zum Präsidentschaftskandidaten. Durch einen überzeugenden Wahlsieg der FSLN mit Zweidrittelmehrheit in der Asamblea Nacional, dem Nationalen Parlament, und Daniel Ortegas als Präsident enden "die neoliberalen Jahre".