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Nur sieben Monate sind vergangen, und schon ist alles anders

Vorbei die Windstille im Plenum, das lähmende Warten auf weiße Rauchzeichen aus Brüssel. Bewältigt, dass der Daumen nach unten wies: EU-Antrag abgelehnt. Überstanden auch der Schock durch Dieters Rücktritt. Eine düstere Zukunft prognostizierten uns Außenstehende und dass der Verein zusammenbrechen werde.


Doch die Katastrophe ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Ein Glück war es, ein glückliches Zusammentreffen von Ereignissen, durch die ein langjähriges Drama - nicht mehr der alte Verein und keine Initiative zu struktureller Erneuerung am Horizont - mit einem kurzen Befreiungsschlag beendet wurde und der Generationenwechsel stattfand.

 

Den Verein der Gründerjahre gab es ohnehin längst nicht mehr. Einige Mitglieder hatten sich aus privaten Gründen von der aktiven Arbeit zurückgezogen, andere, weil sie absolut nicht verstanden und billigten, dass wir unsere Solidaritätsarbeit trotz der Wahlniederlage der FSLN 1990 fortsetzten. Von den neuen Mitgliedern waren einige weniger aus politischen Motiven als aus Neugier auf die 'Dritte Welt' nach Nicaragua geflogen, Wie wichtig die Soli-Arbeit ist, erfuhren sie erst vor Ort.


Weil nichts mehr so ist und sein kann wie in den Achtzigern, veränderte sich auch der Kreis unserer SpenderInnen, UnterstützerInnen, Förderer und Finanzierungsquellen. Gleichzeitig und mit immer größeren Projekten stieg der Kapitalbedarf. Noch schneller als die EU-Bürokratie wuchs das Arbeitsvolumen. Und immer wieder hing die Frage im Raum: Können wir genügend Eigenmittel aufbringen? Nie verflüchtigte sich die Besorgnis: Übernehmen wir uns nicht, personell und finanziell?

 

In den fast zwanzig Jahren der StäPa war Dieter ein gigantischer Vorsitzender. Stein auf Stein lud er auf seine Schultern, agierte je nach Erfordernis als graue Eminenz, als raffinierter Finanzminister und versierter EU-Spezialist oder als unermüdlicher Fundraiser und eloquenter Gesprächspartner verschiedenster politischer Organisationen. Alle Zügel hielt Dieter fest in seiner Hand. Wer Plena versäumte, nicht über ein gehöriges Quantum Insiderinformationen und -codes verfügte, hatte bisweilen schlechte Karten. 'Frag Dieter', war ein geflügeltes Wort seiner MitarbeiterInnen. Nur er wusste über alles Bescheid. Anträge und Abrechnungen verbrauchten ganze Lebenszeiten, denn Dieter opferte die Ferien und stellte seine Familie hintan. Fand sich niemand für einen kurzfristig angesetzten Termin, arbeitete er auch noch am Stand. Wer da nicht mithielt, lebte mit einem schlechten Gewissen. Im Plenum blieb zunehmend weniger Zeit für ausgiebige Diskussionen; Konfliktmanagment war nicht unbedingt Dieters Sache. Und weil er sich nur wenige Male kurz und nur mit offiziellem Programm in unserer Partnerregion aufgehalten hatte, glaubte er auch nicht, dass es unter der konservativen/liberalen Regierung Nicaraguas positive Veränderungen und ohne unser Zutun in San Rafael gibt.


Dieter war lange Zeit der Übervater unseres Vereins. Bequem war 's für uns, denn letztlich haben wir ihn selbst dazu und uns so manches leichter gemacht. Auch war uns der Gedanke, Dieter könnte abtreten, jahrelang mehr als unbehaglich. An eine Abwahl, an einen (symbolischen!) Vatermord auch nur zu denken, wagte niemand. Wer hätte schon an seine Stelle treten können und alle Lasten auf den eigenen Schultern tragen wollen? Selbst vielen jungen und älteren Mitgliedern, von denen keines auf den Kopf gefallen war, fehlte der Durchblick. Niemand wusste z.B. genau und konnte Interessierten verständlich erklären, wie alles funktioniert und warum was läuft (oder nicht). Daher blieb es nicht aus, dass die gemeinsame Arbeit lustloser wurde und sich immer häufiger Frust breitmachte.

 

Schon seit Jahren jedoch konnte frau/man auf unseren Treffen und Veranstaltungen auch neuen Gesichtern begegnen. Es gab einen Zulauf Interessierter und einen ebenso großen Rückzug von BrigadistInnen. Nicht sehr viele kamen mit den schwer durchschaubaren, unterkühlten Vereinsstrukturen zurecht, hielten die permanenten Sachzwänge aus und ließen sich selbst von den komplizierten Finanzmodalitäten nicht abschrecken oder demotivieren. Unter denen, die blieben, befanden sich auffällig viele selbstbewusste Frauen zwischen zwanzig und dreißig, die über Jugend-Gemeinschaftsdienste zum Verein gestoßen waren und erste konkrete Nica-Erfahrungen gemacht hatten, sowie jene ehemaligen ASAten, ohne die einige Projektideen überhaupt nicht hätten verwirklicht werden können. Immer, wenn ich in den letzten eineinhalb Jahren zum Plenum kam, saßen sie schon da, in einer Runde, lachten, redeten und packten auch zu, wenn es etwas zu organisieren gab, ein - wie mir schien - unausgeschöpftes Potential jüngerer Mitglieder und SymphatisantInnen, die bereit waren, sich stärker einzubringen und selber Verantwortung zu übernehmen - wenn man sie nur ließe.

 

Als Anfang des Jahres immer klarer wurde, dass mit dem Rücktritt des Ersten Vorsitzenden eine Epoche zu Ende ging und die Neuwahl des Vorstands nicht wie bisher nur formell und als Bestätigung der alten Garde ablaufen durfte, sondern als einmalige Chance zu tiefgreifenden Veränderungen ergriffen werden musste, war der Klimawechsel bereits in vollem Gang. Einige Aktive hatten schon die Initiative ergriffen, bei einem spontan organisierten Brainstorming-Wochenende Ideen gesammelt und sich über die künftige Vereinsarbeit verständigt.


Gewählt wurden aus dieser Gruppe zur Vorsitzenden und zum primus inter pares Heike, nica-erfahren und lange im Schatten Dieters, sowie weitere sechs Vorstandsmitglieder. Frauen bilden in dem neuen, verjüngten Vorstand zum ersten Mal die Mehrheit. Und das ist gut so, denn auch in unserer Partnergemeinde San Rafael sind Frauen die Aktivsten und besonders stark an Verbesserungen interessiert.


Im Gegensatz zu den Achtzigern ist die 'Arbeiterklasse' - Gartenbauarbeiter, Maurer oder Möbelpacker - nicht mehr im erweiterten Vorstand (und kaum noch im Verein) vertreten. Heute treffen an Hochschulen erworbene Spezialkenntnisse und/oder Praxis aufeinander; das Spektrum reicht von Controlling über Volks- und Betriebswirtschaft, Sozial- und Sonderschulpädagogik, Kommunikationswissenschaft und Agrarwissenschaft bis zu Solartechnik. Fast überflüssig zu sagen, dass alle in-time und über weiteste Entfernungen per Handy kommunizieren und mit PCs umgehen können.


JedeR spürt: sie haben Spaß an der Vereinsarbeit. Das Innovative am erweiterten Vorstand zeigt sich vor allem in seiner Fähigkeit zu transparenter Teamarbeit, zu Offenheit und in der Bereitschaft der Einzelnen, freiwillig größere Verantwortung zu übernehmen, Aufgaben eigenständig, kompetent und zuverlässig durchzuführen - ohne dass die/der Einzelne auf Dauer und mit Haut und Haaren vereinnahmt wird.
Erfrischend ist die ungezwungene Kommunikation, der lockere Umgang miteinander, das Zuhören- und Kritikertragenkönnen. Da wird auch - ohne dass wochenlange Zweifel wie eine dunkle Wolke über den Plena hängen - fast nebenbei erwähnt, der neue EU-Antrag sei pünktlich abgeschickt oder frau/man hätte diesen oder jenen Antrag gestellt und der sei gerade bewilligt worden. Basta. Bravourös und con alegría bewältigten die Teams und Gruppen außerdem das größte Veranstaltungsprogramm, das wir je in einem einzigen Jahr hatten. Symbolische Zeichen von Veränderung sind seit dem Frühjahr auch in unseren Vereinsräumen sichtbar. Alte Nicaplakate wurden abgenommen und eine große Informationstafel angebracht. Auf ihr ist die gesamte Jahresplanung - feststehende Termine, Besuche und Veranstaltungen - eingetragen. Einmal ausführlich erläutert, konnte/kann jedeR frühzeitig wissen und sich auch später orientieren, was es zu tun gibt und wie sie/er sich selber einbringen könnte.


Eines Tages stand auch das dritte Fenster offen, frische Luft wehte rein und die sperrmüllreifen Polstermöbel waren weg. Zur Passivität hatten die geradezu eingeladen: Einmal in ihnen versunken, brauchte/konnte frau und man nur noch der Dinge harren und warten, bis Dieter auftrat. An dem Platz, den die Pfühle restlos ausgefüllt hatten, steht jetzt ein alter, großer Tisch. An ihm versammelt sich wöchentlich der erweiterte Vorstand. Dass die Arbeit auch zügig voran geht, dafür sorgen die ringsum gruppierten harten Stühle. Sehr lange hält es auf denen nämlich nur aus, wer ein starkes Rückgrat hat.

 

Wenn künftig jedes Plenum mit einem ausführlichen, verständlichen Bericht über die Vereinsarbeit beginnt, wenn wir uns mehr Zeit für politische Diskussionen nehmen, das politische Profil des Vereins in der Fremdwahrnehmung schärfen und unseren Blick wieder häufiger auf die Welt jenseits unseres Tellerrandes werfen, z.B. auf Cuba oder die Türkei, wird es uns an Gästen und neuen Mitgliedern nicht mangeln.


Dennoch - und trotz aller Aktivität in Berlin - täte es jedemR gut, ab und an nach Nicaragua zu fliegen, in unserer Partnergemeinde zu arbeiten und zu leben. Denn unser Bild von San Rafael/Nicaragua veraltet schnell, bleibt immer nur ein Bild und ist der komplexen Wirklichkeit bestenfalls ähnlich. Viel Erfolg bei allem und einen langen Atem! Adelante, compañeras y compañeros!

 

Ursula Orlowsky

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